Aktualisierung: 26.12.2023, 19 Uhr
Was ist passiert?
Gerade hatten wir als Städtepartnerschaft eine Spendenkampagne für den Wiederaufbau der durch die türkischen Angriffe Anfang Oktober 2023 zerstörten Infrastruktur gestartet, da erreichte uns am Vorabend von Weihnachten die Hiobsbotschaft, dass türkische Kampfflugzeuge erneut die Energie-Infrastruktur im Umland von Dêrik bombardiert haben. Auch am 1. Weihnachtsfeiertag gingen die Luftangriffe weiter. Unter anderem wurde die Druckerei angegriffen, welche in Qamishlo die Schulbücher für Nordsyrien druckt. Dort starben sechs Mitarbeiter.
Betroffen sind in der Region Dêrik die Ortschaften Dirbespiyê, Xana Serî, Qere Cox, Koçerat, Xerab el Cêr, Teqil Beqil und Banê Sikeftê, in deren unmittelbarer Nähe sich Gas- und Ölfelder befinden. In Dirbespiyê wurde eine Ölraffinerie und eine Ölquelle bombardiert. Dort ist durch die Luftschläge ein Brand ausgebrochen. In Banê Sikeftê wurde ein Umspannwerk zerstört. Das für Dêrik wichtige Umspannwerk bei Teqil Beqil wurde nun zum 3. Mal getroffen! Wieder gibt es in Dêrik keinen Strom und damit auch kein Wasser.
Die Vorsitzende von WJAS, mit der wir die Mobile Klinik betreiben, schrieb uns:
„Entschuldigung, dass ich zu spät geantwortet habe, weil die Situation hier sehr schlecht ist. Die türkische Regierung hat die restliche Infrastruktur zerstört. Am Anfang haben sie Dirbespiyê, Dêrik und Umgebung bombardiert. Heute haben sie Alaya und drei Mal um das Alaya Gefängnis, in dem ISIS Gefangene sitzen, bombardiert. Es wurden dieses Mal auch zivile Einrichtungen, wie z.B. eine Bibliothek angegriffen. Ein Einzelkind wurde ermordet. Wir Frauen von WJAS können jetzt nicht arbeiten. Das WJAS Büro ist geschlossen. Unsere Konferenz sollte eigentlich gestern stattfinden. Aber wir haben uns doch dann bei mir als kleine Gruppe getroffen, weil ein paar Vertreter anderer Ortsgruppen aus Tabqa, Raqqa und Kobane in Qamishli waren. Die Angriffe dauern weiterhin an und wir sind in einer sehr schlechten Situation. Viele Grüße an alle.“
Chronologie der Angriffe und Zerstörungen im Rest Nordsyriens
25.12.2023: 40 Luftschläge wurden dokumentiert
Angriffe auf Kobane:
- die Meshtanur-Klinik, die von Prof. Dr. Gerhard Trabert („Verein Armut und Gesundheit“), der „Kinderhilfe Mesopotamien e.V.“ und „Kölner helfen“ finanziell unterstützt wird, ist komplett zerstört. Sie war auf die Behandlung von Diabetes spezialisiert.
- eine Autowerkstatt;
- eine Futtermittelfabrik
Angriffe auf Amude:
- eine Fabrik zur Verarbeitung von Linsen;
- eine Fabrik zur Verarbeitung von Oliven;
- ein Hochzeitssalon
Angriffe auf Qamishlo:
- das Sadcop-Industriegebiet
- eine Zementfabrik
- eine Mehl- und Tahin-Mühle
- Getreidesilos
- die Druckerei für Schulbücher; 3 Mitarbeiter wurden dabei getötet;
- eine Fabrik zur Verarbeitung von Baumwolle;
- die historische Bahnstation der Bagdadbahn;
- der Park vor dem IS-Gefängnis Alaya;
- das Dialyse-Zentrum (60-70 Patienten können nicht mehr behandelt werden);
- eine Anlage zur Herstellung von medizinischem Sauerstoff;
- ein Keramik Warenhaus;
- eine Tankstelle;
- diverse landwirtschaftliche Betriebe;
- eine Plastik-Fabrik
Angriff auf Dirbespiye:
- das Dorf Mehrkan
26.12.2023 Stand 18 Uhr
Angriffe auf Qamishlo:
- eine Bauwerkstatt in Hirmê Şexo bei Qamishlo zwei Mal;
- das Viertel Girbawi in Qamishlo;
- ein Gebäude der internen Sicherheitskräfte (Polizei);
- Drohnenangriff auf das Viertel der Kfz-Werkstätten
Angriffe auf weitere Orte:
- Getreidedepots im vier Kilometer westlich von Girkê Legê gelegenen Dorf Girê Ziyaretê;
-
die christliche Ortschaft Tewîla bei Til Temir;
-
östlich von Dirbêspiyê wurde ein Wohnhaus von einer Drohne angegriffen
Was bedeutet die wiederholte Zerstörung der Infrastruktur?
Schon bei den Angriffen im Oktober wurde die Infrastruktur bei Dêrik hart getroffen, die Aufbauarbeiten sind noch lange nicht abgeschlossen. Das Bezirksparlament von Friedrichshain-Kreuzberg hatte mit großer Mehrheit in einer Resolution die Angriffe im Oktober auf die Partnerstadt verurteilt.
Auch in Nordsyrien ist momentan Winter. Ohne Gas zum Heizen und Kochen wird es ein harter Winter für die Bevölkerung . Aber das will die türkische Regierung: die Menschen sollen zermürbt werden und in die Flucht getrieben werden.
Nach unseren Informationen werden die aktuellen Angriffe von der Bevölkerung als noch weit folgenreicher empfunden als die Angriffe vom Oktober 2023. Denn jetzt will die türkische Regierung offensichtlich die sowieso schon sehr eingeschränkte ökonomische und medizinische Basis Nordsyriens endgültig zerstören. Seit dem 23.12.23 hat bereits eine grössere Fluchtbewegung in den Nordirak eingesetzt.
Für die türkische Regierung sind die Menschen in Nord- und Ostsyrien Terroristen !
Das türkische Verteidigungsministeriums bezeichnete die Angriffe in Nord- und Ostsyrien als „Vergeltung“ für den Tod mehrerer türkischer Soldaten bei Guerilla-Aktionen in der Kurdistan-Region des Iraks (KRI). Die Guerilla eroberte im Nordirak einen von türkischen Truppen zuvor völkerrechtswidrig besetzten Hügel zurück. Bei den heftigen Gefechten kamen 27 türkische Soldaten ums Leben.
Ankara rechtfertigt die Angriffe in Nordsyrien mit Verweis auf Artikel 51 der UN-Charta, in der das Selbstverteidigungsrecht eines Landes geregelt ist. Das Verteidigungsministerium bezeichnete in einer Mitteilung die bombardierten Kraftwerke, Gas- und Ölfelder als ‚terroristische Stellungen‘. Es betonte, „den ‚Antiterrorkampf‘ so lange fortsetzen zu wollen, bis kein einziger Terrorist mehr übrig ist‘, berichtete die kurdische Nachrichtenagentur ANF.
Orginalton Erdogan, der kein Wort zum Hamas-Massaker an Israelis vorlor, der die Hamas vielmehr als ‚Befreiungsorganisation‘ bezeichnete:
Laut der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet vom 23.12.2023 äusserte sich der türkische Präsident Erdogan zu den Luftangriffen wie folgt: „Wir werden unsere Strategie, den Terrorismus an der Wurzel auszurotten, entschlossen fortsetzen, bis auch der letzte Terrorist beseitigt ist. Die Türkei wird um keinen Preis eine terroristische Organisation im Norden Iraks oder Syriens zulassen. Wir werden niemals von unserem Kampf gegen die angeheuerten Mörderbanden ablassen, die als Subunternehmer für die Imperialisten dienen. Sowohl die blutigen Verbrecher als auch diejenigen, die die separatistische Organisation unterstützen, werden früher oder später begreifen, dass es in der Zukunft unserer Region keinen Platz für den Terrorismus gibt. Ich wünsche allen unseren Sicherheitskräften, die den Terroristen innerhalb und außerhalb unserer Grenzen keine Luft zum Atmen lassen, Erfolg von Allah, dem Allmächtigen. Möge Allah unsere heldenhaften Soldaten siegreich machen.“
Mit welchem Recht werden die Menschen in Nordsyrien, die Sieger über den IS, als Terroristen behandelt?
Wir fragen uns, was die multikulturelle und multikonfessionelle Bevölkerung von Nord- und Ostsyrien mit den Kämpfen der Guerilla im Irak gegen die Besatzung irakischen Territoriums durch die Türkei zu tun hat. Selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestags stuft die Angriffe der Türkei als völkerrechtswidrig ein. Der belgische Kassations-Gerichtshof urteilte 2020, „dass es in der Türkei einen bewaffneten Konflikt gibt und dass die PKK Konfliktpartei in diesem innertürkischen bewaffneten Konflikt ist“ und daher Kriegspartei sei und keine Terrororganisation. Mit welchem Recht definiert die türkische Regierung die Energieversorgung und die gesamte zivile Infrastruktur Nordsyriens als ‚terroristische Stellung‘?
Es gab nie Angriffe aus Nord- und Ostsyrien auf türkisches Gebiet
Es gab noch nie Angriffe auf die Türkei von nordsyrischem Gebiet aus, die eine Selbstverteidigungssituation der Türkei rechtfertigen würden. Trotzdem wird die gesamte kurdische Bevölkerung in der Türkei, im Nordirak und in Nordsyrien – und mit ihr die in Nordsyrien zusammenlebende arabische, assyrische, armenische und ezidische Bevölkerung – von der türkischen Regierung in Sippenhaft genommen und zu Terroristen erklärt?
Unsere Erwartungen an die Bundesaussenministerin
Wir erwarten von unserer Außenministerin Annalena Baerbock, dass sie eine Protestnote nach Ankara schickt und sich lautstark für ein Ende des Psychoterrors der Türkei in Nord- und Ostsyrien einsetzt.
Die Menschen dort wollen nichts anderes als Frieden und ihre demokratische Selbstverwaltung weiter konsolidieren. Erdogan jedoch scheint die Region zurück in autoritäre, islamistische Strukturen à la Hamas bomben zu wollen. Wollen wir, dass noch mehr Menschen von dort fliehen müssen? Allein am Weihnachtstag haben sich über 300 Menschen aus Nordsyrien auf den Weg nach Europa gemacht. Ist das in unserem Interesse, dass Erdogan neue Geflüchtete produziert?
Jetzt erst recht Wiederaufbauhilfe leisten!
Lasst uns gemeinsam dem Zerstörungswahn der türkischen Regierung in Nord- und Ostsyrien etwas entgegen setzen! Auf die Bundesregierung können wir anscheinend nicht zählen, denn Geopolitik ist zynisch und geht über Leichen.
Aber wir können unsere Solidarität praktisch über Spenden für den Wiederaufbau der Infrastruktur und die Verstetigung der Demokratie in der Region ausdrücken. Es gibt viele Organisationen, die sich dafür einsetzen, wie z.B. die NGO ‚medico international‘, regionale Gruppen wie die ‚Städtefreundschaft Frankfurt-Kobane‘, der Verein ‚Städtepartnerschaft Köln-Qamishlo‘, der Verein ‚Städtepartnerschaft Oldenburg-Rakka‘ oder wir als erste deutsche offizielle Städtepartnerschaft ‚Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik‘ in Berlin. Erkundigt euch in euren Städten, es gibt viele Initiativen, die die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien mit konkreten Projekten unterstützen.
Wer uns unterstützen und für Dêrik spenden will: wir sammeln Spenden für unsere von der Frauenstiftung WJAS betriebene Mobile Klinik im Umland von Dêrik und für die Reparatur von 3 Schulen in Dêrik.